Judith Hermann trifft Zhai Yongming

Als deutscher Beitrag zum diesjährigen China-Europa-Literaturfestivals mit dem Thema „Frauenperspektiven – zwischen den Zeilen“ lädt das Goethe-Institut die deutsche Schriftstellerin Judith Hermann und die chinesische Dichterin und Schriftstellerin Zhai Yongming zu einem Dialog über das Schreiben von Frauen und die Vielfalt und Kreativität europäischer und chinesischer Schriftstellerinnen am 27. November 2021 ein. Die Veranstaltung wird vom Leiter des Goethe-Instituts China, Dr. Clemens Treter, moderiert. 

Die Meisterin der Kurzgeschichten hat ihren zweiten Roman geschrieben und lässt ihre Figuren in der Mitte des Lebens zurück- und nach vorne blicken. Der Roman „Daheim“ beginnt mit einer Erinnerung an eine Begebenheit vor fast 30 Jahren. Der Protagonistin, die ein tristes Leben führt und in einer Zigarettenfabrik arbeitet, wird eines Tages ein Job als Assistentin eines Zauberers angeboten, der auf Tournee mit einem Kreuzfahrtschiff Richtung Singapur gehen will. Sie lehnt ab. Eine Erinnerung, die nach langer Zeit wieder auftaucht und fragil wirkt, fast nicht echt und wie ausgedacht erscheint. War das ein Wendepunkt oder einfach nur irgendein Moment in ihrem Leben? Diese kurze skurrile Episode knüpft in ihrer Art an die Kurzgeschichten aus „Sommerhaus, später“ und „Nichts als Gespenster“ an. 

Judith Hermann erzählt in ihrem neuen Roman „Daheim“ von einem Aufbruch: Eine alte Welt geht verloren und eine neue entsteht. Die Protagonistin hat ihr früheres Leben hinter sich gelassen, ist ans Meer gezogen, in ein Haus für sich. Ihrem Exmann schreibt sie kleine Briefe, in denen sie erzählt, wie es ihr geht, in diesem neuen Leben im Norden. Sie schließt vorsichtige Freundschaften, versucht eine Affaire, fragt sich, ob sie heimisch werden könnte oder ob sie weiterziehen soll. Judith Hermann erzählt von einer Frau, die vieles hinter sich lässt, Widerstandskraft entwickelt und in der intensiven Landschaft an der Küste eine andere wird. Sie erzählt von der Erinnerung. Und von der Geschichte des Augenblicks, in dem das Leben sich teilt, eine alte Welt verlorengeht und eine neue entsteht.

Das poetische Werk von Zhai Yongming zeichnet eine beispielhafte Entwicklung aus. Es beginnt 1983 mit der privaten Publikation des Zyklus „Frauen“, der schon Anzeichen eines neuen feministischen und poetischen Diskurses zu erkennen gibt. Der Aufenthalt in New York Anfang der neunziger Jahre bedeutete einen Neuanfang. Zhai begann nun, Langgedichte zu schreiben, die aufgrund ihres narrativen Charakters offener wirken. Es ging nicht nur um das persönliche Leid der Frau, sondern auch um das historische, das allgemeine Leid, das alle Frauen miteinander teilen. Ein Aufenthalt in Berlin im Jahr 2000 stellte eine weitere Zäsur dar. Zhais Gedichte wurden nun lakonisch. Der Mann als solcher mochte zwar weiter Gegenstand ihrer Kritik sein, doch die einstige Verbissenheit hatte ein Ende: Es ging nun vielmehr um allgemein-gesellschaftliche Dinge, die China wie Europa gleichermaßen betreffen. Im Laufe ihrer jahrzehntelangen dichterischen Tätigkeit hat Zhai Yongming einen lebendigen Schreib- und Denkstil beibehalten, der in jeder Epoche wichtige Werke hervorgebracht hat und in der chinesischen Lyrikszene eine unbestreitbare Bedeutung hat. 

„Daheim“ ist auch Empfehlungstitel des Goethe-Instituts für das diesjährige Projekt „Social Translating“. Die chinesische Übersetzung wird vollständig durch die Übersetzungsförderung des Goethe-Instituts finanziert. Sie wird 2023 im Verlag Shanghai Literature and Arts Press erscheinen.

Die Veranstaltung wird auch live auf der WeChat-Plattform des Goethe-Instituts China übertragen.

DETAILS

Zeit: 27.11.2021, 16:00 – 17:30

Gäste: Judith Hermann, Zhai Yongming

Moderation: Dr. Clemens Treter

Sprache: Chinesisch mit chinesischer Gebärdensprache

Ort: Goethe-Institut China

Adresse: Originality Square, 798-Kunstviertel, Jiuxianqiao-Straße 2, Bezirk Chaoyang, Beijing (北京市朝阳区酒仙桥路2号798艺术区创意广场)

Preis: Eintritt frei. Reservierung erforderlich

Für die Anmeldung klicken Sie bitte hier.

DIE GÄSTE

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt „Sommerhaus, später“ (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband „Nichts als Gespenster“. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien „Alice“, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, „Aller Liebe Anfang“. 2016 folgten die Erzählungen „Lettipark“, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Im Frühjahr 2021 erschien der Roman „Daheim“, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.

Zhai Yongming, geboren in Chengdu, Provinz Sichuan, machte ihren Abschluss an der University of Electronic Science and Technology of China und arbeitete anschließend bis 1986 als Ingenieurin am Physikinstitut. 1981 begann sie, Gedichte zu veröffentlichen. Nach ausgedehnten Reisen durch Europa lebte sie auch fast zwei Jahre lang in den USA, wo sie mit dem Auto durch das Land reiste. Sie gilt als eine der faszinierendsten und anspruchsvollsten zeitgenössischen chinesischen Dichterinnen und wurde für ihr Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Zhongkun International Poetry Prize 2007, der Best Ten Women Poets of China Award, der italienische Ceppo Pistoia International Literary Prize und der Chinese Media Award. Zu ihren zahlreichen Gedichtbänden gehören „Woman, Above All Roses The Collected Poems of Zhai Yongming“, „Call It All“ , „Fourteen Plain Songs“  und „Interlinear Spaces“. Ihre Lyrik wurde ins Englische, Französische, Niederländische, Italienische, Spanische und Deutsche übersetzt. Außerdem hat sie sechs Sammlungen von Essays und Literaturkritiken veröffentlicht. Frau Zhai lebt in Peking und in Chengdu, wo sie die Kunst- und Literatur-Bar „White Nights“ besitzt und betreibt. 

Das 6. EU-China Literary Festival steht unter dem Motto „Through Women’s Eyes – Reading Between the Lines“ (女性视角–字里行间) und vereint die Vielfalt, die Talente und die Kreativität von Schriftstellerinnen in Europa und China online und mit Veranstaltungen. Es findet in der Zeit vom 27. November bis 19. Dezember 2021 statt und wird organisiert von der Delegation der Europäischen Union in China mit Beiträgen aus zahlreichen Ländern.